Samstag, 6. September 2008

Jessica

Vorgestern in der U-Bahn dauerte es wie üblich nicht lange, bis am anderen Ende des Waggons eine Stimme erklang.
Eine junge Frau erklärte, sie hätte seit 2 Tagen nichts gegessen und würde sich über Kleingeld für eine Mahlzeit freuen.
Sie war sauber und ordentlich, aber sehr abgemagert.
Sie kam mir gleich bekannt vor, und nach ein paar Sekunden hatte ich sie erkannt: Es war Jessica.
Jessi und ich gingen zusammen zur Schule, sie war in meiner Parallelklasse, wir hatten ein paar Kurse miteinander. Im Englischkurs saßen wir sogar nebeneinander.
Ein nettes, unauffälliges Mädchen ohne erkennbare Probleme und mit mittelprächtigen Noten, und niemand, bei dem man "sowas" erwarten würde.
Sie ging durch den Wagen um die wenigen Kleingeldspenden einzusammeln, bei mir blieb sie stehen und es war deutlich, dass sie auch ein paar Sekunden brauchte, um mich einzuordnen.
Sie begrüßte mich mit einem ziemlich betretenen "Hi!" und warf mir ein verlegenes "Ist halt passiert"-Lächeln zu. Es war ihr wohl peinlich, jemanden aus der Vergangenheit zu sehen, und auch ich kam mir blöd vor, als ich ihr 2€ in die Hand drückte.
Eine unangenehme Situation.
Bahnhof Wittenbergplatz, der Zug hielt, Jessica stieg aus.
Sie drehte sich um, lächelte mir nochmal zu, und schien froh zu sein, dass ich keine Fragen gestellt hatte.

Man sieht jeden Tag Armut und Obdachlosigkeit, aber wenn es jemanden getroffen hat, den man kennt ...

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ganz schön herb, das Erlebnis. Das würde mir mit Sicherheit ganz schön lange nachgehen. Dir vermutlich auch.

Anonym hat gesagt…

Mit einem Tag Abstand - hättest du sie lieber fragen wollen, was dazu geführt hat?

Lebenskoffer hat gesagt…

Weiß ich nicht ... ich war von der Begegnung total geplättet und habe immer noch keine Ahnung, was ich denken soll.
Eigentlich interessiert es mich natürlich, aber andererseits geht mich das doch alles überhaupt nichts an und sie wirkte nicht grade so, als ob sie sich abends mit 3 Pennern und 10 Ratten um eine Decke streiten muss. Vielleicht ist sie ja bloß im Frauenhaus oder sowas ... ist ja alles möglich.
Blöde Sache jedenfalls.

Anonym hat gesagt…

Bloß im frauenhaus? Und sowas speicherst du unter "Mitmenschliches" und 2 Euro ab?
Würde mir sowas passieren, ich würde sie glatt auf ein cafe einladen und helfen.

Heikeee hat gesagt…

Irgendwie hab ich auch als erstes gedacht "und warum fragt man nicht ob man nicht schnell gemeinsam wo auf einen kleinen Snack geht?" Auf der anderen Seite ist man in so einem Moment sicher SPRACHLOS...naja 2€ sind besser wie nichts

Lebenskoffer hat gesagt…

Das Problem war wirklich, dass ich komplett geplättet war.
Bin ich ehrlich gesagt immer noch.
Es ging nur alles so schnell, dass ich gar nicht richtig schalten konnte und quasi mit Autopilot flog. Deshalb die blöden 2€ und die Tatsache, dass ich einfach wie vom Blitz getroffen dort stand und kein vernünftiges Wort herauskriegte.
Wer mal versucht, sich in diese Situation zu versetzen, wird das wohl nachvollziehen können.

Es ist auch nicht so, dass mir sowas in irgendeiner Form egal wäre, und ich versuche immer meinen Teil zu tun, wenn jemand Hilfe braucht.
Der Jessica-Vorfall hat mich mehr mitgenommen als es vielleicht den Anschein hat, und ich habe ihn eigentlich nur aus diesem Grund gebloggt. Und um vielleicht auch andere Menschen daran zu erinnern, dass Obdachlose und Bettler ganz normale Leute sind.